Montag, 3. Oktober 2016

Aysäfpìl / Gedanken

Oeri aysäfpìl
(Gedanken über mich)

Lange schon zähle ich nicht mehr die Tage, an denen ich einmal Zeit hatte. Zeit für mich, Zeit meine eigenen Gedanken zu ordnen und Zeit, über all die Geschehnisse nachzudenken, die mich, Kxìrya, und nicht die Tsahìk (spirituelle Clanführerin), die ich nun einmal auch bin, beschäftigen. Zeit, mir über meine Ideen, Gefühle, Sorgen und auch meine soaia (Familie) nachzudenken. 
Daher verlasse ich an diesem Morgen bereits sehr früh das Lager, um einen Ort aufzusuchen, an den ich, seit ich Tsahìk olo'ä Rey'engyayä (spirituelle Führerin des Rey'engya Clans) bin, nur noch selten komme, obgleich er nur einige Schritte entfernt unseres Lagers liegt. Ohne mich weiter um das Lager, das Clanfeuer oder andere Dinge zu kümmern, gehe ich direkt hinunter zum See und setze mich auf einen der dort im Wasser liegenden Felsen.


Mein erster Blick fällt auf eine Stelle, über die ich erst vor einigen Tagen mit Neyri sprach und die zwischen dem kleinen Arbeitslager und dem Aufgang zu unserem Clanlager liegt und an der sich vor sehr langer Zeit ein Wasserfall befand, den ich immer sehr gerne und auch lange beobachtete und dessen Rauschen mir auch heute irgendwie in den Ohren liegt.
Neyri... Sie ist meine bisher beste Schülerin und wenn ich an die Umstände denke, unter denen sie zu uns kam und ihre grausame Vergangenheit, von der sie mir erzählte, spüre ich umso mehr Stolz in mir, dass die sawtute (Himmelsmenschen)  es mit all ihren Waffen und Foltern nicht geschafft haben, ihren Willen zu brechen. Dennoch haben sie etwas von ihr getötet...


Sie wird eine gute Heilerin werden, das spüre ich und ich spüre ebenso , dass dies nicht das Ende ihres Weges sein wird. Doch ich spüre ebenso, dass sie für einige Dinge einfach noch nicht bereit ist und dass ihr Erfahrungen fehlen. Doch woher sollte sie diese auch bekommen?  Ihre Eltern wurden, ebenso wie ihr ganzer Clan, von den sawtute (Himmelsmenschen) vernichtet. Die einzige überlebende, Neyri, damals noch beinahe ein prrnen (Baby), haben sie gefangen, sie gefoltert, beschimpft, ihr schlimme Verletzungen zugefügt und sie haben es geschafft, ihren Geist zu verletzen. Doch, und das erfüllt mich mit Freude und Stolz, haben sie es nicht geschafft, ihren Willen und ihr Herz zu brechen und so konnte Eywa ihr helfen, sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien.
Sie wurde meine Schülerin, ich und Sey'syu haben sie als unsere 'ite (Tochter) akzeptiert und seit einiger Zeit scheinen auch unsere Herzen einen Weg zueinander gefunden zu haben. Doch zuerst muss, will und werde ich einen Weg finden, ihren Geist zu heilen, damit sie vielleicht eines Tages in der Lage ist, die Dinge zu tun, die sie jetzt noch nicht zu tun vermag. Doch muss sie es auch wollen...


Ein Lichtblitz trifft meine Augen und ich muss unweigerlich in den See schauen. Das leicht grünliche Wasser reflektiert die Sonnenstrahlen und diese treffen immer wieder in meine Augen. Doch ich genieße die Ruhe. Hier und dort höre ich entfernt, wie die nachtaktiven Tiere sich mehr und mehr zurückziehen und dafür den am Tage aktiven den Wald überlassen. Es ist ein ewiges Kommen und Gehen. Jäger werden zu Gejagten und Gejagte werden zu Jägern. Einige Fische schwimmen um den Felsen herum, auf dem ich sitze und ich nehme den Duft der vielfältigen Pflanzen tief in mich auf. Lange habe ich dies nicht mehr so intensiv erlebt. 


Sey'syu, meine yawntu (Liebste) ist seit einiger Zeit merkwürdig in ihrem Verhalten. Ich verstehe sie, denn vieles ist geschehen, das auch ich nicht verstehen kann und es haben sich Fragen ergeben, auf die ich dem Clan keine Antworten geben kann. Auch Sey ist oftmals mehr als überfordert, erscheint es mir und so frage ich mich immer öfter, ob ich überhaupt noch Eywas Zeichen richtig zu deuten vermag?
Oftmals erscheint es mir, dass meine Augen blind, meine Ohren taub und mein Geist zu schwach ist, um ihre Zeichen zu sehen, sie zu fühlen und zu verstehen. Ich weiß, der Clan steht hinter mir. Genau darum aber behalte ich viele meiner Ängste und Sorgen für mich.

Die sawtute (Himmelsmenschen) breiten sich mehr und mehr aus. Erst kürzlich entdeckten Tsaro und Ne'wey ein offenbar erst vor kurzer Zeit von ihnen neu gebautes Lager in den Bergen. Sey war außer sich vor Wut und Hass und auch ich, sowie der Rest des Clans ist verärgert darüber. Immer mehr zerstören sie das, was Eywa, unsere große Mutter erschaffen hat, was sie uns geschenkt hat und das, was wir dankbar annehmen, denn es ist sehr wichtig für uns und für den Clan.

Oft schon habe ich daran gedacht, Maytame (Kxìryas leibliche Tochter) zurück zu holen. Nachdem mich vor einiger Zeit die Nachricht erreichte, dass meine sa'nu (Mama) sehr krank sei, ich zu ihr flog, um sie zu versorgen und mich um sie zu kümmern, habe ich diesen Gedanken, diesen Wunsch, doch ist es offensichtlich nicht Eywas Wunsch, dass dies geschieht, denn sonst würde sie es niemals zulassen, dass die sawtute (Himmelsmenschen) dies immer wieder verhindern, indem sie Dinge tun, die meine Pläne durchkreuzen.

Ein Geräusch lässt mich aufschrecken. Ich drehe mich herum und greife zu meinem Messer, doch es war nur ein kleineres Tier, das wahrscheinlich auf Nahrungs- oder Wassersuche ist. Der Wald ist gefährlich, doch seit die sawtute (Himmelsmenschen) immer mehr ihrer Metallpferde, ihrer Metallvögel und Metallwerkzeuge überall hin bringen, scheint es mir, dass es noch viel gefährlicher im Wald geworden ist, denn Tiere jagen nur aus Hunger, doch sie jagen aus Spaß am töten. Schreckliche Bilder sehe ich vor meinem inneren Auge, Bilder von brutal getöteten und respektlos zugerichteten aynantang (Natterwölfen). Dies war nicht die Tat eines Palulukan (Thanators) oder eines Jägers, sondern die Tat eines feigen und seelenlosen tawtute (Himmelsmenschen).
Seitdem Txällän (Dallan) wieder einmal verschollen ist, habe ich nur noch zu Txavitx (David) Kontakt gehabt. Doch auch er verließ unseren Clan, was Sey sehr weh und auch in meinem Herzen großen Schmerz ausgelöst hat. Doch ich weiß, wie ich mit ihm in Kontakt treten kann, denn wir haben ein geheimes Zeichen vereinbart und ich weiß, wo er sich aufhält.
Möge Eywa, die große Mutter, ihn beschützen und seinen Plan gelingen lassen...


"Ma hì'ia numeyu..." (Kleine Schülerin...), klingt es mir plötzlich so deutlich im Ohr, dass ich unwillkürlich meinen Kopf nach rechts drehe, doch es war nur in meinen Gedanken und es war Beyda'amos Stimme, die ich glaubte zu hören. Mein einstiger karyu (Lehrer) fand vor einiger Zeit recht unerwartet und auch unter etwas merkwürdigen Umständen zu unserem Lager. Kurz darauf erschien Atan, der Olo'eyktan Tipaniyä (Clanführer des Tipani Clans) ebenso unerwartet bei uns. Nach langer Zeit gab es wieder einmal ein sehr ausgelassenes Fest und ich konnte, obgleich sie es versuchte zu verbergen, Ne'weys Gefühl, das sie für ihren einstigen karyu (Lehrer) empfindet nicht nur spüren, sondern auch gut verstehen, denn auch ich war einst Atans numeyu (Schülerin)  und noch heute bewundere ich seine Ruhe, seine Gelassenheit und ich spürte bei diesem Fest, dass er viel Selbstvertrauen zurückgewonnen hat, das man ihm vor langer Zeit genommen hat. Er hat es wahrlich nicht immer leicht gehabt und sein Clan, die Tipani, waren ihm nicht immer eine große Hilfe...

Der Tag ist nun erwacht und ich weiß, dass wieder viel Arbeit auf mich wartet. Neyri erwartet, dass ich ihre Ausbildung fortsetze, sie wieder neue Dinge lehre, ihre Fragen beantworte und vielleicht auch wieder ein offenes Ohr für ihre Sorgen haben werde. Ebenso erwartet der Clan, dass ich mich auch heute wieder um die kleinen und großen Belange kümmere, Ideen und Vorschläge vorbringe und ich tue dies auch alles sehr gerne, auch wenn mich all diese Dinge manchmal zu erdrücken scheinen.
So breche ich auf, um ins Lager zurück zu gehen, doch bevor ich den Hang zum Lager hinauf gehe, setze ich mich noch ans Ufer unseres Sees und schaue zu den Rasiermesserpalmen hinüber. Dort, inmitten der blau leuchtenden Bäume liegt Ari'lanas kleiner Körper begraben. Nie werde ich dieses neugierige und mutige, aber auch leichtsinnige Mädchen vergessen.

Ich sehe es noch vor mir als ich sie, von aynantang (Natterwölfen) zerschunden und getötet in einem fremden Wald fand, sehe, wie ich ihren leblosen Körper wasche, ihn auf meinen Ikran lege und dann mit ihr nach Hause fliege, um sie dort ehren- und respektvoll zu begraben und ihre Seele an Eywa zu übergeben. Eines Tages, kleine Jägerin, werden wir uns wieder sehen...

Als ich das Lager erreiche, stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass es dort auffallend till ist. Beinahe klingt es wie ausgestorben. Vermutlich sind die Jäger im Wald unterwegs, während Sey, Sey'syu und einige andere vielleicht etwas rund um das neue Lager der sawtute (Himmelsmenschen) erkunden. Auch Ne'wey, Korlan und Neyri scheinen nicht hier zu sein. Auch sie haben bestimmt Dinge zu erledigen oder sie haben sich zurück gezogen, um Pläne zu schmieden, wie wir gegen diese ayvrrtep (Dämonen) vorgehen werden. Wir werden, wir können und wir dürfen es nicht geschehen lassen, dass sie unser Land ebenso zerstören, wie es einst die sawtute (Himmelsmenschen) taten, als sie zum ersten mal auf unsere Welt kamen.

Erst vor wenigen Tagen fanden wir einen merkwürdigen, da blau leuchtenden, Baum der Seelen, an dem cih und auch Sey merkwürdige Stimmen hörten und noch verwirrendere Bilder einer Menschenfrau sahen, deren Geist Eywa in sich aufgenommen hat. Auch wenn wir diese Geschichte aus Liedern, Gedichten und Erzählungen anderer Clans kennen, waren es unglaubliche, ja beinahe verstörende Dinge, die wir dort erlebten. Ich bete, ich flehe zu Eywa, dass dies alles niemals wahr werden wird...

Ein Gedanke formt sich in meinem Kopf, der mehr und mehr Gestalt annimmt. Es ist nur eine vage Ahnung, doch ich werde diesen Gedanken verfolgen, um zu sehen, ob sich diese Vorahnung bestätigen wird. Ich weiß, ich werde dazu den Clan für eine vielleicht lange Zeit verlassen müssen, aber ich weiß, sie werden es verstehen und meinen Wunsch respektieren. Ebenso wie sie, bin ich eine freie Na'vi und auch die Tatsache dass ich die Tsahìk (spirituelle Führerin) des Clans bin, wird mich weder dazu zwingen, noch mich von diesme Wunsch abbringen, diesen Gedanken, diese Vorahnung zu verfolgen - Auch wenn dies bedeuten sollte, dass ich vielleicht nicht wieder lebendig zu den Rey'engya zurück kehren werde...

Zeykoyu taronyusì oe lu. Oe lu sa'nok yawntusì nìteng ulte oer tìomum lu teri su'o oeyä. Tìmeypìri oeyä omum oe nìteng slä txopu ke si oe fwa kayä Eywane krro. Law lu oer fwa Eywal frakrr oeti sì olo'ti hawnu sivi.  (
Ich bin Heilerin, ich bin Jägerin, ich bin Mutter und Geliebte und ich weiß um meine Fähigkeiten. Ebenso kenne ich meine Schwächen, doch ich habe keine Angst, eines Tages zu Eywa zu gehen. Ich bin mir gewiss, dass Eywa mich und den Clan immer beschützen wird.)



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