Sonntag, 14. Mai 2017

Maytame Ryatxisi 'olìp / Maytame und Ryatxi sind verschwunden

Maytame Ryatxisi 'olìp
(Maytame und Ryatxi sind verschwunden)

Mein Blick erfasst zuerst das Dach unserer Schlafhöhle, als ich aufwache. Neben mir höre ich Neyri, Maytame und Ryatxi ruhig atmen. Sie schlafen noch. Sey'syu, Korlan, Sey und die anderen liegen nur ein Stück weit entfernt, ebenso schlafend, in ihren Hängematten. Lautlos stehe ich auf und schleiche zu dem Raum, in dem Neyri und ich diese merkwürdige, neue Pflanze zur Beobachtung aufgestellt hatten. Erst kürzlich entdeckten wir sie bei einer gemeinsamen, nächtlichen Erkundungstour. Ich betrete also den Raum und gebe zunächst etwas Wasser auf den kleinen Erdhaufen, den wir um ihre Wurzeln herum aufgeschüttet haben. Die gelbfarbene Blüte ist geschlossen und ihr Leuchten erloschen. Offenbar leuchten diese Pflanzen nur während der Nacht.

Mit einer List versuche ich die Pflanze zum Leuchten anzuregen, indem ich alle Fackeln in dem Raum lösche, sodass nur ein sehr fader Lichtschein durch den Eingang in diesen Raum gelangt. Eywa jedoch hat dieser Pflanze offenbar einen Sinn gegeben, der sie Tag und Nacht spüren lässt, denn sie beginnt, entgegen meiner Erwartungen, nicht zu leuchten. Ich und Neyri haben beschlossen, sie sehr genau zu beobachten. Wir müssen feststellen, womit sie die leichten, aber durchaus brennenden und juckenden Verletzungen herbei führt. Ist es eine Art Gift? Sind es Dornen, die unsere Augen in der Dunkelheit nicht sehen konnten? Oder sind es vielleicht winzige, auf ihr lebende Tiere, die wir noch nicht kennen?

Ich zünde die Fackeln zunächst wieder an, verlasse dann aber die Höhle, um zu sehen, wer bereits wach ist. Als ich an den Schlafplätzen vorbei komme, bemerke ich dann gleich, dass Neyri und die beiden Kinder fort sind. Neyri treffe ich vor der Höhle und wir begrüßen uns, jedoch weiß auch sie merkwürdigerweise nichts darüber, wo May und Ryatxi hin gegangen sein könnten. Irgendetwas sagt mir, dass etwas nicht stimmt. May ist noch nie weggelaufen, daher vermute ich die beiden am See. Neyri, die mir anbietet, gleich nach den Kindern zu suchen, halte ich zunächst zurück und sage: "May kennt ihre Grenzen und sie wird sie nicht überschreiten. Also lassen wir sie eine Weile lang alleine spielen." Mein Bauchgefühl jedoch sagt mir etwas anderes.

Neyri begleitet mich zum See, doch wir können die beiden weder sehen, noch hören. Mein Herz beginnt zu pochen und ich rufe nach meiner Tochter, bekomme aber auch nach mehrmaligem Rufen keine Antwort. Innerlich empfinde ich große Sorge, die ich gegenüber Neyri jedoch zu verbergen versuche. Ich stelle mir die Frage, was May und den Jungen dazu veranlasst hat, alleine in den Wald hinaus zu gehen. Sie haben weder Waffen, noch können sie sich verteidigen. Aus Sorge wird mehr und mehr Angst...

Ohne lange zu überlegen, willigt Neyri ein, mir bei der Suche nach den beiden zu helfen. Aber wo sollen wir unsere Suche beginnen?  Ich beschließe, dass wir bei den ayutral mokriä (Stimmenbäumen) unsere Suche beginnen, da May diese Ort nicht nur gut kennt, sondern auch dort viel Zeit mit mir verbracht hat, um den Stimmen unserer Ahnen und auch der ihres sempul (Vaters) zu lauschen.

Zwei Dinge geschehen, als wir zu den Bäumen kommen, nahezu gleichzeitig: Wir sehen Sey, der mit den beiden Kindern aus dem Wald auf uns zu kommt und ich empfinde große Erleichterung, dass es den beiden gut geht. Zugleich aber spüre ich auch so etwas wie Verständnislosigkeit in mir. Sey erklärt dann, er habe die beiden im Wald, nahe der Gebäude der sawtute (Himmelsmenschen) eher zufällig gefunden. May versucht sich meinen Blicken zu entziehen, indem sie sich hinter einem der Stimmenbäume zu verstecken versucht. Diese Reaktion zeigt mir, dass sie sehr genau weiß, dass sie etwas falsch gemacht hat. Ryatxi hingegen macht auf mich den Eindruck, als wisse er gar nicht, dass er etwas verbotenes getan hätte. Ich ermahne May, uns zu erklären, wo genau die beiden waren und bin schon im nächsten Augenblick fassungslos und wie erstarrt, als sie mir, wenngleich auch mit gesenktem Blick erklärt, dass sie im Krater des Feuerberges waren und sich die bunten Kristalle, die dort in einem Höhlengang sind, angesehen haben.

Mir stockt der Atem und mein Herz scheint für einen Moment lang still zu stehen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, deute ich in Richtung unseres Lagers und bedeute den beiden mit nachdrücklichem Blick, sich genau dorthin zu begeben. Sie gehorchen und Sey und auch Sey'syu, die gemeinsam mit Sey unterwegs war, schauen mich ebenso fassungslos an, wie ich sie vermutlich ansehe, denn von dem Feuerberg wussten die beiden ebenso wenig, wie ich oder Neyri.

In diesem Moment beschließe ich etwas, das ich bisher noch nie entscheiden musste: May und Ryatxi werden eine Strafe bekommen. Jedoch wird es eine Bestrafung sein, aus der die beiden lernen sollen, dass in einem Clan wie unserem alle einander helfen. Als wir uns am Clanfeuer versammeln, muss ich Rytxi zunächst ermahnen, mir nicht ins Wort zu fallen. Nach einem Gespräch mit Sey'Syu und Sey entscheiden wir dann, dass Sey'Syu die beiden für einen Tag und eine Nacht in genau jene Höhle bringen wird, in der Sey'Syu beinahe verhungert wäre, bevor wir sie dort fanden und befreiten. Es gibt dort Wasser und einen kleinen Strauch mit Beeren, sodass die beiden nicht ganz ohne Nahrung sein werden. Außerdem wird Sey'syu, ohne dass die Kinder es bemerken, die Höhle und das, was darin vorgeht, beobachten und einschreiten, falls es nötig werden sollte.

Mir ist klar, dass die beiden diese Entscheidung nicht mit Freude anhören, als ich sie verkünde. Doch sie gehorchen und ich spüre, wie mein Herz wie zu Stein wird, als Sey'Syu mit den beiden das Lager verlässt. Erst vor wenigen Tagen schloss ich May in meine Arme, um sie jetzt zu einer Höhle bringen zu lassen, doch es muss sein. Allerdings ahne ich bereits jetzt, dass dies auch eine Strafe für mich selber sein wird, doch ich versuche es vor dem Clan zu verbergen.

Als Sey'syu dann am nächsten Tag mit den beiden ins Lager zurück kehrt, kann ich die Müdigkeit der drei gut verstehen. Sicherlich haben sie kein Auge zu bekommen und sich Gedanken über ihre Situation und das, was sie angestellt haben, gemacht. Hoffentlich haben sie etwas daraus gelernt?  Sey'syu wird ebenfalls nur wenig Schlaf bekommen haben, als sie die beiden beobachtet hat. Daher erlaube ich ihr und den Kindern, sich auszuruhen. Ich werde bei nächster Gelegenheit mit ihnen sprechen...

Als ich dann alleine am See bin, kommen mir wieder einmal Zweifel. Bin ich eine gute sa'nok (Mutter) oder habe ich die beiden zu hart bestraft?  Ich mache mir Gedanken und Vorwürfe. War meine Entscheidung falsch? War sie richtig? Was, wenn ihnen etwas zugestoßen wäre, das Sey'Syu nicht hätte verhindern können?

Schritte nähern sich und ich bemerke, dass Neyri vor der kleinen Hütte steht, in der ich gerade vor einem kleinen Feuer sitze und nachdenke. Natürlich bemerkt sie meine Stimmung und wir sprechen darüber. Allerdings erfahre ich dabei, dass May Neyri auch hintergangen hat, da sie auch Neyri versprochen hatte, nicht alleine, also ohne einen erfahrenen Jäger oder Krieger,  in den Wald zu gehen. Es macht mich traurig, als sie mir dies erzählt und wir beginnen ein sehr langes Gespräch, während die Nacht über uns dahin zieht...

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