Dienstag, 5. September 2017

Ok zusawkrrteri / Erinnerungen an die Zukunft

Ok zusawkrrteri 
(Erinnerungen an die Zukunft)



Es beginnt völlig unvermittelt, als wir gerade an einem Abend rund um unser Clanfeuer versammelt sitzen. Tsaro, Beyda und Sey hatten ein Yerik (Hirsch ähnliches Tier) erlegt und es gerade für die Verarbeitung am darauffolgenden Tag aufgehängt und wir erzählen der Reihe nach von einigen Erlebnissen, die teilweise länger zurük liegen. Beyda erinnert sich zurück an den Clan der Tipani und wie er so erzählt, kommen auch mir nach und nach Erinnerungen in den Sinn, die ich fast schon vergessen zu haben glaubte. Als Neyri dann auf Sey zu geht und ihn, wenngleich auch vielleicht etwas zurückhaltend, bittet, ihr doch zu erzählen, wie er einst zu den Tipani gekommen ist und weshalb man ihm den Namen Sey gab, von dem sie bislang nur wusste, dass es nicht der Name ist, den Seys sa'sem (Eltern) ihm gegeben hatten, sehe ich plötzlich vor meinem geistigen Auge Ayn'at, meine einstige Tsahìk (spirituelle Clanführerin) und Atan, den Olo'eyktan (Clanführer) der Tipani. Ich sehe, wie beinahe der gesamte Clan damals von dieser heimtückischen Krankheit heimgesucht wird, die uns allen hässliche, rote und zum Teil sehr schmerzhaft brennende Flecken auf der Haut verursacht. Ich sehe, mein Spiegelbild im See, als ich frisches Wasser hole, um Ayn'at zu versorgen, spüre, wie mein Herz in diesem Moment beinahe stehen bleibt und ich spüre die Angst, die mich überfällt, heimtückisch und kalt.


Nur am Rande bemerke ich, dass ich, während ich all dies gerade vor mir sehe, dies den anderen erzähle. Ich schildere ihnen, was ich empfinde, erzähle ihnen von meiner Sorge um Atans und Ayn'ats Leben und wie ich, die damals noch in der Ausbildung zur Heilerin war, um die vielen Leben der Tipani kämpfte ohne jedoch abschätzen zu können, ob mein Wissen dazu überhaupt ausreichend sein würde.
Am Feuer wird es still. Auch Sey, ich kann es spüren, erlebt diese Erinnerungen nun noch einmal. Beyda, mit dem ich viele Tage neben Ayn'ats Lager verbrachte, ohne Schlaf und nur mit dem Nötigsten an Wasser und Nahrung, schaut mich an und ich sehe in den Augen meines einstigen karyu (Lehrers), dass meine Worte nicht übertreiben.
Die einzigen, die diese Sache damals nicht selber miterlebt haben, sind Ne'wey, Tsaro, Neyri und die beiden Kinder. Sie alle lauschen meinen Worten gespannt und nachdem ich meine Erzählung beende, erklärt Sey Neyri, wie er zu den Tipani kam, oder besser er erzählt, an was er sich erinnern kann, da er damals verletzt im Wald gefunden wurde und sich an absolut nichts erinnern konnte, nicht einmal an seinen Namen. Er erzählt, wie er vom Clan der Tipani den Namen Sey bekam und er erzählt, wie er von Atan zu einem Krieger ausgebildet wurde.
May, die sonst nicht scheu davor ist, selbst den Olo'eyktan (Clanführer) mit ihren Fragen zu unterbrechen, sitzt, zusammen mit Ryatxi, neben uns am Feuer und die beiden scheinen ihre Sprache verloren zu haben.

Reihum erzählen nacheinander alle von ihren Erlebnissen, berichten über lustige, spannende, traurige und auch gefährliche Dinge, an die sie sich erinnern.
Neyri tut mir in Momenten, wie diesem etwas Leid, denn sie ist die einzige, die von Erinnerungen dieser Art niemals wird erzählen können, da die sawtute (Himmelsmenschen) ihr niemals die Möglichkeit gaben, solche Dinge zu erleben. Doch all dies wird sie nachholen und auch sie wird eines Tages Erinnerungen in sich tragen, von denen sie mit Stolz anderen erzählen kann. Ihr Leben als Na'vi hat, nimmt man es einmal genau, eben erst begonnen.
Als Sey'Syu, Korlan und auch Beyda Dinge aus ihren Erinnerungen erzählen spüre ich, wie ich nach und nach müde werde.
Als ich erwache, ist es schon heller Tag. Neyri sitzt neben mir und ich brauche eine ganze Weile, um zu erkennen, dass dies alles kein Traum war. All die Erlebnisse und Erinnerungen, von denen wir berichteten, sind Wirklichkeit. Sie sind zwar vergangen, aber dennoch geschehen und somit ein Teil von uns allen.
Neyri und ich beschließen das Lager zu verlassen und mit einem unserer Boote hinaus zu fahren und dabei bemerke ich, dass sie das Boot inzwischen eben so gut führen kann, wie Ne'wey oder Sey'Syu auch. Sie steuert es sicher den Fluss entlang und ich frage sie nicht, zu welchem Ort sie uns führen wird, denn ich vertraue ihr. Als wir auf eine Gruppe von ayutral aymokriyä (Stimmenbäume) zu fahren, überkommt mich für einen kurzen Augenblick ein Gefühl und eine Erinnerung kommt mir in den Sinn. Ich weiß, dass ihr Herz für mich schlägt und auch mein Herz schlägt in ihrer Gegenwart irgendwie anders. Es ist ähnlich, wie zwischen Sey'Syu und mir. Obgleich ich noch viel für Sey'Syu empfinde und sie wohl auch für mich, hat sich dennoch einiges zwischen uns verändert. Heute aber spüre ich, dass Neyri mich vielleicht nicht zufällig zu diesem Ort bringt, denn ich erinnere mich daran, wie ich mich einst mit Winataron, meinem muntxatan (Ehemann) vor Eywa vereint habe. Ich glaube ahnen zu können, was Neyri vor hat...
Neyri steuert das Boot bis ans Ufer dicht bei den Stimmenbäumen, wir befestigen es gemeinsam am Flussufer und gehen ein Stück durch die Stimmenbäume hindurch, bis wir das Ufer des Meeres erreichen. Neyri trägt ihr Haar entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten offen und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie dies nicht ohne Absicht tut. Wir setzen uns ans Ufer und sprechen miteinander und wieder erzähle ich ihr aus meinen Erinnerungen, als ich vor langer Zeit nach Ari'lana suchte, die verschwunden war und ich erzähle ihr, wie ich dabei auf den sehr alten und kranken Olo'eyktan (Clanführer) eines fremden Clans traf, der sich in eine Höhle, fernab des Clans, zurück gezogen hatte, um dort auf den Moment zu warten, den die große Mutter bestimmt hatte, um ihn zu sich zu holen.
Neyri und ich kommen uns immer näher. Wir umarmen und küssen uns und irgendwie erlebe ich das alles, als hätte ich es schon einmal erlebt. Zugleich fühlt es sich aber für mich auch an, als würde dies erst in ferner Zukunft geschehen und ebenso auch jetzt gerade, in diesem Moment.
Dann, als wir nebeneinander im Moos unter den Stimmenbäumen liegen, greift Neyri nach meinem Zopf, lässt ihn durch ihre Hand bis zum Ende gleiten und ich sage zu ihr: "Es ist für immer, ma Neyri, so wie es bei Deinem Ikran (Banshee) und Dir auch für immer ist."

Neyri nickt mir zu und es durchzuckt mich für einen kurzen Moment. Ich spüre, was jeden Moment geschehen wird und obwohl ich mir wünsche, dass es geschieht spüre ich auch, dass es nicht jetzt geschehen darf, nicht geschehen soll, sondern dass es erst in ferner Zukunft geschehen wird, obgleich es sich gleichzeitig auch so anfühlt, als wäre es längst geschehen.
Die Enden unserer beiden Zöpfe kommen sich näher und als der Moment des heiligsten Rituals, dass es zwischen Na'vi gibt, dann gekommen ist, hören wir beide zugleich ein Geräusch und wenden uns abrupt und mit gezogenen Messern um. Vor uns steht Txavitx (David). Dieser Moment verlangt eine schwere Entscheidung von Neyri und mir, denn Seys Befehl, jeden tawtute (Himmelsmenschen) unverzüglich zu töten, war eindeutig. Aber es ist Txavitx, der da vor uns steht. Er, der einst zu uns gehörte, der ein Teil des Clans werden wollte. Er, der einst Seys Schüler war, dem Sey vertraute...


Neyri gibt Txavitx eindeutig zu verstehen, dass er an diesem Ort mehr als unerwünscht ist und ich bin innerlich froh darüber, dass sie nicht das tut, was sie bei den sawtute (Himmelsmenschen) erlebt hat, denn sie verschont sein Leben. Ich bin stolz auf sie, die gelernt hat, das Leben zu respektieren, es zu würdigen.
Unser Gespräch währt nur eine kurze Zeit und als Txavitx sich auf den Weg zurück in die von ihm selbst gewählte Heimat, die Behausung aus Metall und Stein macht, bleiben Neyri und ich noch eine Weile an diesem Ort zurück, denn ich möchte, dass Neyri Erinnerungen in sich aufnehmen kann. Erinnerungen an sich, Erinnerungen an mich, an unseren Clan und unser Land. Vielleicht wird auch sie lernen sich, ebenso wie ich, an Dinge zu erinnern, die ich Erinnerungen an die Zukunft nenne...


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